Der Wal auf dem Fahrrad (Erzählung, Textauszug)

........ Natürlich macht Fahrrad fahren nicht überall gleich viel Spaß. So einen Meeresboden darf man sich ja keinesfalls nur flach und sandig vorstellen! Genau wie hier bei uns oben gibt es Berge und Täler, Grünanlagen, Straßen und Wohnsiedlungen. Auch der Wal auf dem Fahrrad hatte seine Lieblingsstrecken. Die absolute Lieblings-Lieblingsstrecke war aber die Umrundung des Vulkans.
Riesig und ein bisschen düster stand dieser seit Walgedenken mitten im Meer und nur seine Spitze ragte aus dem Wasser. Oben in dem Berg war ein tiefes Loch, das bei Vulkanen Krater heißt. So ein Vulkan kann Feuer spucken und immerhin die Erde beben lassen. Er ist also nicht ganz ungefährlich! Die Meerestiere waren dem Berg stets mit Respekt begegnet, auch wenn es sich bei ihrem Vulkan um einen äußerst zivilisierten Unterwasservulkan handelte und sie von seinen geheimen Kräften keine Ahnung hatten.

Wenn nicht gerade Ferien waren, umrundete der Wal mit dem Fahrrad den Berg mindestens einmal im Monat. Und jedes Mal begegneten ihm dabei bemerkenswerte Dinge, Pflanzen und Tiere.
In den Seegraswäldern tummelten sich riesige Fischschwärme, die zwischen den wogenden Blättern stundenlang Verstecken spielten. Vulkanische Erde ist sehr fruchtbar und deshalb wuchsen an den Hängen dieses Bergs prächtige Unterwasserpflanzen.

Natürlich gehören zu jedem Vulkan auch ein paar heiße Quellen. In ihrer Nähe picknickte der Wal gern, wobei er sich wohlig schnaufend den mächtigen Walbuckel wärmte.
An manchen Stellen hatte der Vulkan Löcher wie ein Schweizer Käse. Wenn der Wal ganz dicht heranschwamm, konnte er hineinschauen. Zu sehen war allerdings nichts. Es herrschte undurchdringliches Dunkel! Das war ein bisschen unheimlich, denn der Wal wusste, dass es hier tief hinunter in das Innere des Berges ging.
Nach jeder Umrundung berichtete der Wal am Abend den kleinen Walen von seinen Erlebnissen. Die meisten Kinder finden Vulkane toll. Auch diese beiden fragten dann wie aus einem Mund: „Oooooh! Was hat der Mukan heute gemacht?“ Das Wort Vulkan war ihnen nämlich noch zu schwer. Und jedes Mal sagte der Wal: „Na nichts weiter, was soll er denn machen? Er steht in der Landschaft!“ Dabei zwinkerte er mit einem großen freundlichen Walauge und tätschelte sie liebevoll mit der Bauchflosse.

Doch eines Tages war das nicht mehr so.
423-mal hatte der Wal schon mit den glücklichen Fischen im Seegraswald geplaudert, an den heißen Quellen Halt gemacht und neugierig in eines der schwarzen Käselöcher geschaut. Eines sonnigen Meeresmorgens gab er der Walin wie immer einen Abschiedskuss und schwang sich auf sein frisch geputztes Fahrrad. Voller Vorfreude auf die 424ste Umrundung trat er kräftig in die Pedale und erreichte bald die ersten Ausläufer des prächtigen Seegraswaldes.

„Hallihallo, ich bin’s, der Wal auf dem Fahrrad!“ rief er fröhlich, doch kein einziger der 539 Millionen 693.722 Fische des Schwarms ließ sich blicken (So viele waren es jedenfalls bei der letzten Umrundung gewesen). Erstaunt fuhr der Wal weiter in den Seegraswald hinein.
Aber was war das? Die Blätter, die sonst immer sanft mit der Dünung des Meeres hin und her wogten, begannen auf einmal zu zittern und zu beben, und ein dumpfes Grollen, das aus den tiefsten Tiefen des Meeresbodens kam, erfüllte das Wasser um den Wal auf dem Fahrrad.
Verschreckt sah dieser sich um. Er war ein sehr gutmütiger und liebevoller Wal, doch besonders mutig war er nicht. Um genau zu sein, war er fast ein bisschen furchtsam. In diesem Moment schwamm der Fischschwarm mit großer Geschwindigkeit heran. „Bin ich froh, euch zu sehen!“, rief der Wal erleichtert aus. „Hier ist gerade etwas sehr Seltsames geschehen.“ 539 Millionen 693.722 Fische (oder ein paar mehr oder weniger) nickten ernst. „Das kannst du aber laut sagen“, ereiferte sich der Schwarmsprecher und rollte erbost mit den Glubschaugen. „Den ganzen Tag geht das jetzt schon so mit diesem Gewackel und Gebebe. Wir sind so klein und jedes Mal schüttelt es uns vom Kopf bis zu den Flossen durch!“ Alle Fische nickten wieder bekräftigend, so dass dem Wal beim Zuschauen ganz schwindlig wurde. „Wir ziehen jetzt erst einmal in ruhigeres Gelände“, teilten sie dem Wal mit, winkten mit 539 Millionen 693.722 linken Seitenflossen (oder ein paar mehr oder weniger) und weg waren sie.

Der Wal wunderte sich sehr, denn seit Walgedenken hatte der Schwarm seine heimatlichen Fischgründe nicht verlassen. Nachdenklich schwang er sich wieder auf das Fahrrad. Sein nächstes Ziel waren die heißen Quellen, wo man sich so schön den Rücken wärmen konnte. Doch zu seinem Schrecken war auch dort nichts, wie es sein sollte. Die dunkelgrüne Pflanzenpracht hatte sich von heute auf morgen hässlich braun verfärbt. Sie sah ganz und gar nicht mehr einladend aus! Der Wal dachte noch darüber nach, was diese bedauerliche Veränderung bewirkt haben mochte, als er unwillkürlich einen kleinen Hopser machte und sich die Bauchflosse hielt, die unangenehm warm geworden war. Wieder einmal war er froh, dass er keine Füße hatte, denn die hätte er sich jetzt sicher scheußlich verbrannt. Kein Wunder, dass die Pflanzen ringsherum welk und braun waren - das Wasser, das aus der Quelle kam, war plötzlich nicht mehr angenehm warm, sondern kochend heiß!
Außerdem hatte es eine eigenartig gelbe Färbung und roch gar nicht gut. Um die Wahrheit zu sagen, stank es ganz fürchterlich, und zwar nach faulen Eiern. Der Wal rümpfte seine ziemlich große Nase. Er hatte in der Schule aufgepasst, jedenfalls manchmal, und wusste daher, dass es Schwefel war, der diesen scheußlichen Geruch verströmte. Doch wo kam der auf einmal her? Ratlos schüttelte der Wal den mächtigen Kopf, so dass die Muscheln, die darauf wohnten, nur so mit den Schalen klapperten und empört schimpften. Und weil ihm nichts Besseres einfiel, setzte er seine gewohnte Runde fort.

Doch als er zu einem der Käselöcher kam und wie immer hineinschaute, wartete erneut eine Überraschung auf ihn. Statt des üblichen undurchdringlichen Dunkels sah der Wal einen rötlichen Schein, wie von einem unheimlichen Feuerstrom tief unten im Berg. Aus dem Loch drang wieder dieses dumpfe Grollen, das sich wie das hungrige Knurren eines Raptosauriers anhörte. „Da soll mich doch gleich ein Riesenhummer in den Allerwertesten beißen...!“ murmelte der Wal. „Was bedeutet das alles nur?“

Schnell schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr nach hause. Die Walzwillinge fragten wie immer, was denn der Mukan so mache, aber an diesem Abend antwortete der Wal nicht mit einem fröhlichen:„Nichts weiter“. Stattdessen sagte er: „Nun ja. Ich glaube, der Vulkan ist aufgewacht.“ „Wie, aufgewacht?“, fragten die Walkinder erstaunt. „Hat er denn geschlafen?“ „Ich weiß es nicht“, meinte der Wal nachdenklich. „Jedenfalls benimmt er sich höchst sonderbar!“ Und er erzählte seiner Familie von dem Grollen, dem Beben, dem heißen Schwefel und dem Feuerschein.
Gemeinsam dachten sie eine Weile darüber nach, aber da ihnen nichts Gescheites einfiel, vertagten sie das Thema und gingen zum abendlichen Planktongrasen über. Wale, besonders junge, sind immer hungrig. Auf Grund ihrer Größe brauchen sie naturgemäß ungeheure Mengen dieser winzig kleinen, nahrhaften Teilchen, die einfach so im Wasser herumschwimmen. Schließlich waren aber selbst die Walzwillinge satt und friedlich in ihren Wasserbettchen eingeschlummert.

Auch der Wal schnarchte schon, die Walin hingegen wälzte sich schlaflos hin und her. Und da nun wirklich niemand neben einer sich hin und her wälzenden Walin schlafen kann, setzte sich der Wal schließlich auf und öffnete ein Auge. Die Walin sah ihn besorgt an und sagte: „Wal, wir müssen reden!“ Der Wal öffnete das zweite Auge und seufzte vernehmlich. Aus Erfahrung wusste er, dass an Weiterschlafen nicht zu denken war, solange die Walin reden wollte.
„Die Sache mit dem Vulkan lässt mir keine Ruhe. Du musst dich erkundigen, was diese Veränderungen zu bedeuten haben!“ sagte die Walin. „Das würde ich ja gern, doch bei wem? Seit wir im Meer schwimmen, sind diese Dinge niemals vorgekommen,“ gab der Wal zu bedenken. Gemeinsam grübelten sie eine Weile, bis die Walin ausrief: „Ich hab’s! Morgen besuchst du den uralten Riesenkraken mit den vielen Tentakeln. Wenn jemand etwas über diese Vulkansache weiß, dann er.“

„Och nö!“, maulte der Wal, den diese Aussicht überhaupt nicht begeisterte. Der uralte Riesenkrake war berüchtigt für seine schlechte Laune. Außerdem musste er immer erst eimerweise Kaffee trinken, bevor man sich mit ihm vernünftig unterhalten konnte. Er war nämlich wirklich sehr alt und döste fast den ganzen Tag vor sich hin. „Doch doch doch!“, beharrte die Walin auf ihrer Meinung. „Das ist eine wichtige Angelegenheit und es muss sein!“ Seufzend fügte sich der Wal in sein Schicksal, denn seine Frau hatte ja recht. Es musste wirklich sein.

Am nächsten Abend näherte sich der Wal vorsichtig der Felsenhöhle im Korallenwald, wo der uralte Riesenkrake mit den vielen Tentakeln hauste. Zaghaft klopfte er an, doch nichts rührte sich. Er klopfte lauter und lauter, doch erst als er alle Vorsicht über Bord warf und mit der Schwanzflosse energisch gegen den Höhleneingang bumperte, ließ sich ein dumpfes (und ausgesprochen ungnädiges) Grummeln vernehmen.
„Nicht einmal ausschlafen kann man mehr! Jaja, früher war das alles anders, aber heutzutage herrscht eben kein Respekt mehr vor dem Alter!“ schimpfte der Riesenkrake, als er den Wal widerstrebend einließ. Dabei ächzte und stöhnte er herzerweichend, doch der Wal nahm die schlechte Laune des Kraken gelassen auf.

„Riesenkrake, wir haben ein Problem. Die Meeresbewohner brauchen deine Hilfe!“ erklärte er dem graugrünen Ungetüm und stellte die mitgebrachte Thermosflasche ab. Darin befanden sich 100 Liter frisch aufgebrühter, wunderbar duftender Bohnenkaffee, natürlich schwarz.
Die Miene des Kraken hellte sich bei diesem Anblick ein wenig auf, doch erst als er die Thermosflasche bis auf den letzten Tropfen genüsslich geleert hatte, ließ er sich zu einer Antwort auf die drängende Vulkanfrage bewegen. .......

Autor und Copyright: Corinna Wagner, März 2008




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